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Kunstbulletin | Sønke Gau | September 2011

Der Künstler Uriel Orlow untersucht in seinen vielschichtigen Videoinstallationen das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Konstruktionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gleichzeitig thematisiert er Überlagerungen von Dokumentation und Fiktion. Mit seinen jüngsten Arbeiten ist er nun im Rahmen von ‹Chewing the Scenery› an der Biennale Venedig sowie im Kunstraum la rada in Locarno zu Gast.

Uriel Orlow – Eine Vergangenheit haben wir, Geschichte müssen wir uns geben

«Im kollektiven Gedächtnis herrscht Platzmangel», stellte die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann einmal fest. Im Gegensatz zum individuellen Erinnern beruhe das kollektive Gedächtnis, etwa jenes von Nationen, auf narrativen Strukturen und klaren Aussagen. Diese werden getroffen anhand symbolischer Zeichen, welche «die einzelnen Erinnerungen auswählen, fixieren, verallgemeinern und über die Grenzen von Generationen hinweg tradierbar machen»1. Vergangenheit also, welche nicht in diese Konstruktion passt, wird aussortiert.
So lässt sich der Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien von 1967 als Teil des kollektiven Gedächtnisses bezeichnen. Die Auswirkungen dieses Konfliktes beeinflussen die Geopolitik der Region bis heute. Weniger bekannt ist, dass die damalige Schliessung des Suezkanals dazu führte, dass vierzehn internationale Frachtschiffe und deren Besatzungen bis zur neuerlichen Öffnung der Seeverbindung im Jahr 1975 ihre Fahrt nicht fortsetzen konnten und in der breiteren Mitte des Kanals, im Great Bitter Lake, annähernd acht Jahre festsassen.

Fussnote der Geschichte
Uriel Orlow nimmt diese Fussnote der Geschichte als Ausgangspunkt seiner Arbeit ‹The Short and the Long of it›, 2010. Die auf umfangreichen Recherchen basierende Installation verknüpft verschiedene Medien und Zeitebenen, wodurch ein dichtes Netz an Bezügen entsteht: Alte Fotografien und Super8-Filme der blockierten Seeleute zeigen, wie aus der Notsituation heraus eine temporäre pan-nationale Gemeinschaft – die Great Bitter Lake Association – entstand.
Hauptziel der Vereinigung war, dass sich die Besatzungsmitglieder untereinander anfreunden, gegenseitig Hilfe leisten und sich die Wartezeit verkürzen. So feierten sie zusammen Weihnachten oder organisierten parallel zu den Olympischen Spielen in Mexiko eigene Wettkämpfe in unterschiedlichen Disziplinen. Diese Aufnahmen kombiniert Orlow mit solchen, die ihn selbst bei der Recherche vor Ort zeigen. Eine parallel ablaufende Diapräsentation blendet Texttafeln ein, auf denen neben wichtigen weltpolitischen Ereignissen gleichberechtigt die Titel von Filmen und Musikalben genannt werden, die während der achtjährigen Wartezeit erschienen sind. Ein Monitor zeigt eine an einen Granateneinschlag erinnernde Rauchsäule in Super-Zeitlupe über Wüstensand, der an eine Wasserfläche angrenzt. Dieses Wasser wiederum strömt in Normalzeit, wodurch, gepaart mit der verlangsamten Abbildung der Rauchsäule, zwei verschiedene Zeitebenen in einem Bild entstehen. Zeichnungen von Fischen, die «unbeeindruckt» von dem Geschehen über Wasser aus dem Roten Meer durch den Suezkanal in das Mittelmeer migrieren, sind neben Fotoarbeiten und weiterem Recherchematerial zu sehen. Ziel des Nebeneinanders, bzw. der komplexen Überlappungen verschiedener Referenz- und Zeitebenen ist es dabei offensichtlich nicht, die mit dem Ereignis verbundene Vergangenheit möglichst vollständig zu rekonstruieren und abzubilden, sondern eher durch die Überlappungen eine Potentialität möglicher Lesweisen zu beschreiben.
Bei ‹The Short and the Long of it› – wie auch bei den Arbeiten von Orlow im Allgemeinen – handelt es sich daher keinesfalls um Geschichtsarbeiten oder Dokumentationen im engeren Sinn. Sie behaupten nicht, die Vergangenheit habe wirklich genau so stattgefunden und sie stellen auch nicht die Frage, ob die «Realität» tatsächlich objektiv dargestellt ist. Vielmehr wird der zugrunde liegende Authentizitätsanspruch zur Diskussion gestellt. Bilder, Aussagen und Zeichen dienen hier als Ausgangsmaterial, aus dem von einer jeweiligen Gegenwart aus ein Bestand an subjektivem Sinn aktualisiert wird. In der Bewegung zwischen den Bestandteilen der Auslegeordnungen in Orlows Arbeiten, mit ihren zahlreichen materiellen, bildlichen und sensorischen Aspekten, sind es die Rezipierenden, welche als Co-Autor/innen eigene Wahrnehmungs- und Erfahrungsaspekte mit den angebotenen Elementen verbinden. Während der Begriff «Geschichte» suggeriert, dass sich diese als lineare Ordnung – quasi als roter Faden durch die Zeit – verstehen liesse, verdeutlicht der Ansatz des Künstlers, dass Geschichte aus unendlich vielen Einzelfasern besteht, die nur durch bewusste Selektion zu so etwas wie einem Faden erklärt werden kann.

Restposten der Zukunft
Dieses Prinzip liegt ebenfalls seiner kurz zuvor entstandenen Arbeit ‹Remnants of the Future›, 2009/10, zu Grunde. Auch in diesem Fall verfolgt der Künstler sein Interesse an der Überlagerung verschiedener Zeitebenen, die sich als Sedimente an einem bestimmten Ort niederschlagen und von dort aus auf der Zeitachse in verschiedene Richtungen verfolgt werden können. Um beim Bild des Fadens zu bleiben: Uriel Orlow nimmt eine Einzelfaser auf und folgt ihr, bis sich neue Verknüpfungen ergeben und so ein zuvor nicht sichtbares Gewebe an Bedeutungszusammenhängen entsteht. ‹Remnants of the Future› verbindet – auf der Basis solcher unterschiedlicher Elemente – das Motiv der Zeitreise nicht nur mit dem Kollaps der Sowjetunion, sondern auch mit der Kehrseite moderner Architektur, dem Erdbeben von Spitak, das 1988 Nordarmenien erschütterte, und nimmt ausserdem Bezug auf den im Ersten Weltkrieg stattgefundenen und umstrittenen Genozid an den Armenier/innen im Osmanischen Reich. Knotenpunkt ist dabei die doppelte (Nicht-)Existenz der Städte Mush.
Im einen Mush (heute in der Türkei) fand 1915 ein Massaker an der armenischen Bevölkerung statt, während im anderen Mush (in Armenien) ein von Michael Gorbatschow in Auftrag gegebenes Wohnprojekt für die Betroffenen des Erdbebens entstehen sollte, welches nach dem ursprünglichen Mush benannt wurde. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion verhinderte dessen Fertigstellung. Beide Mushs lassen sich insofern als «Geisterstädte» bezeichnen. Im Mittelpunkt der Installation steht eine Videoarbeit, welche Beobachtungen und Eindrücke aus dem nicht abgeschlossenen Wohnprojekt zu einer beinahe hypnotischen Intensität verdichtet.
Eindrückliche Bilder vermitteln einen Schwebzustand zwischen den Zeiten, und zeigen eine Stadt, die für die Zukunft entworfen wurde, in der Gegenwart aber bereits aus Ruinen2 besteht. Neben Tieren, die auf dem Areal leben, sieht man nur vereinzelt Menschen durch die Szenerie huschen, die sich hier irgendwie eingerichtet haben und Tätigkeiten nachgehen, die eng mit dem Ort verbunden sind und diesen dabei (ver-)brauchen. Unterlegt sind die Bilder mit einem Soundtrack von Mikhail Karikis, der die spärlichen Geräusche des Alltags mit Radiowellen kombiniert, welche von «sterbenden Sternen» (Pulsaren) ausgehen – lange nachdem sie explodiert sind. Am Ende spricht eine Frauenstimme aus dem kritischen Zeitreisedrama ‹Das Schwitzbad›, 1930, des russischen Regimekritikers und Futuristen Wladimir Majakowski:
«I am an emissary from the future…». Ihre Worte aus dem Off scheinen sich direkt an die Bewohner/innen von Mush zu richten.

Vorboten der Vergangenheit
Die künstlerischen Projekte Uriel Orlows verdeutlichen, wie Wissensarchitekturen durch die Anordnung von Aussagen, Artefakten oder Dokumenten entstehen. Sein Vorgehen ist ein archäologisches; die im Zuge seiner Recherchen zusammengestellten «Archive» stellen jedoch nicht den Anspruch einer allgemeingültigen Konstruktion von Erinnerung. Sie verstehen sich eher als Notizen, welche durch die Neuanordnung von Informationen Möglichkeitsräume für andere Bedeutungen eröffnen. Seine aktuellste Arbeit ‹Precursors of the Past› knüpft direkt an ‹Remnants of the Future› an und setzt die begonnene Recherche in dem ursprünglichen Mush in der Türkei fort. Elemente von beiden Arbeiten sind im Rahmen des von Andrea Thal kuratierten Projektes ‹Chewing the Scenery› auf der Biennale in Venedig zu sehen. Orlows Publikationsbeitrag und seine Lecture Performance tragen den Titel ‹Aide-Mémoire›. Im diplomatischen Verkehr werden so die kurzen notizähnlichen Niederschriften mündlicher Erklärungen bezeichnet – als Gedächtnisstützen.

Sønke Gau, Kulturwissenschaftler, Kurator und Autor.

1 Aleida Assmann: Kollektives Gedächtnis www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=6B59ZU
2 Robert Smithson prägte für diesen Zustand den Begriff «Ruins in Reserve». Vgl.: Robert Smithson Gesam­-
melte Schriften, Köln/Wien 2000, S. 100